Satz ≠ Inhalt

In der Küche zu lernen ist wundervoll.
Dort sitzt man nicht nur am riesigen Holztisch, an dem man alle seine Utensilien, Hefte, Zettel, Stifte, Kabel und den Laptop ausbreiten kann, sondern es findet sich zwischendurch immer jemand für eine kurze Unterhaltung. Ganz nebenbei lernt man dann ein paar spanische Wörter und kann seine brennenden Fragen zur Grammatik loswerden und ein wenig mehr Klarheit in den scheinbar abstrakten spanischen Text bringen.

Während ich meinen Kopf in meinen 18-seitigen Text über Verhandlungsstrategien tauche, schaue ich immer wieder aus dem Buchstabenmeer hinauf, quasi nach jedem Atemzug. Ich bin schon deutlich schneller im Lesen geworden, für diesen Text rechne ich 2 ½ Stunden ein, damit dürfte ich auskommen. Einmal kurz hochschauen, aus dem Fenster auf den Limonenbaum, welcher immer neue grün-gelbe Früchte trägt und sie stolz präsentiert.

Baguette Costa Rica Manuela Doerr-5

Dann nehme ich wieder Anlauf und nähere mich Wort für Wort, Vokabel für Vokabel, dem Inhalt des Textes. Langsam gelingt es besser, die Wörter bleiben nicht mehr Wörter, sondern formen sich zu Sätzen, die ihren Inhalt preisgeben. Sätze, die etwas sagen. Im besten Falle sogar das, was der Autor sich dabei gedacht hat.
Satz für Satz lese und verstehe ich, aber eben nicht Satz für Absatz für Inhalt.
Zum Glück lief das bei den fachspezifischeren Texten bisher besser. Die 30 Seiten über Eugene Smith habe ich leichter verstanden. Vielleicht lag es auch am Thema, da mich die Analyse der Fotoserie, welche 1951 im LIFE Magazin erschien und von der Arbeit Maude Callens, einer schwarzen Krankenschwester auf dem Land in den USA, handelt, deutlich mehr interessiert, als Verhandlungsstrategien. Wie bereite ich eine Verhandlung vor? Wie trickse ich mein Gegenüber aus und wie schaffe ich es, dass beide Verhandlungspartner am Ende mit einem Lächeln den Raum verlassen? Nach diesem Text werde ich es wissen! Hurraaa!
Einen Text über ein solches Thema würden wir in meinem Fach in Deutschland in der Uni wohl eher weniger zu lesen bekommen. Wäre der Stoff wirklich wichtig, dann würden wir im Unterricht darüber sprechen, vielleicht würde der Prof vorher einen kurzen Vortrag hierzu halten, anschließend würden wir den Text zur Nachbereitung zur Verfügung gestellt bekommen.
Ich bin gespannt, wie unser aus fünf Personen bestehender Kurs am Donnerstag die 18 Seiten im Unterricht behandelt wird. Ob wir über den Inhalt hinaus gehen, oder ihn einfach noch einmal zusammenfassen.

Nach einer Seite voller Sätzen, die sich jedoch untereinander nicht zu einem einzigen Gedanken verbinden scheinen zu wollen, kommt meine französische Mitbewohnerin herein. Sie trägt ein rotes Top und hat die dunklen Haare zu einem lockeren Dutt zusammengesteckt. Wie immer schick gekleidet, durchsucht sie ihr Kühlschrankfach, wird fündig und beginnt Gemüse mit einem der zwei großen Messer, über welche unsere WG verfügt, zu halbieren und zu würfeln.

Dazu gibt es bestimmt Tico-Baguette.
Dabei handelt es sich um eine Untergruppe der Baguettefamilie, welche jedoch eindeutig andere Vorfahren hat, als die Rasse des französischen Baguettes. Vielleicht war der Vater ein amerikanisches Toast und die Mutter ein Brotstange aus der Normandie.
Der Brotverbrauch in unserer WG ist vermutlich so hoch, wie der des restlichen Stadtviertels, also von ganz San Pedro. Wir ernähren uns auf eine uns bekannte und vertraute und unser ganzes Leben gelernte Art und Weise. Toastbrot belächeln wir, haben aber keine richtige andere Alternative, wenn wir europäisch Essen wollen. Matthias hat Sauerteigbrot erstanden, es dann aber zuhause ziemlich skeptisch gemustert. Es kann eindeutig nicht mit deutschen mithalten.

Reis und Bohnen wollen die meisten Austauschstudenten in ihrer Freizeit und im trauten Heim nicht essen. So ginge es den Ticos in Deutschland oder Frankreich wohl mit dem Brot.
Wie kann man nur jeden Tag Brot essen?

Baguette Costa Rica Manuela Doerr-2
Achtung, der Schein trügt! Dieses Baguette schmeckt nicht wie ein (französisches) Baguette.

Es wird Zeit, den Reiskocher auszuprobieren. In jedem Ticohaushalt gibt es ihn, direkt neben Mixer und Toaster beheimatet. Reiskocher sind die Brotkörbe und -boxen Costa Ricas.

Und es ist sogar viel einfacher als gedacht.
Reis rein, Wasser rein, anschalten und weggehen. Der Kocher schaltet sich automatisch aus, man muss wirklich nichts tun und erhält grandiosen Reis. Kein rauf und runter regeln der Temperatur am Herd, keine überkochenden Töpfe, schier ein Traum.

Andrés, der einzige Tico unserer WG, bekommt mit, dass ich mir Reis koche.
„Du bist die erste außer mir, die den Reiskocher benutzt“, entgegnet er erstaunt. Er hat sogar noch einen Tipp, damit mein Reis noch mittelamerikanischer wird: Direkt ein paar Zwiebeln und ganz klein geschnittene Paprika mitkochen, dann wird es richtiger Gallo Pinto Reis.

Das werde ich beim nächsten Mal ausprobieren. Vielleicht wage ich mich auch an rote Bohnen heran, die brauchen in unserem zweiten Minikocher 6 Stunden.
Reis und Bohnen werden hier in großen Mengen gekocht, anschließend in Plastikdosen im Kühlschrank verstaut und zu jeder Mahlzeit gegessen. So hat man bei einem Gericht locker mindestens fünf verschieden Lebensmittel auf dem Teller, ganz viele kleine verschieden Portionen (Reis, Bohnen, Fleisch, Salat, Plátano, Tunfisch, Kichererbsen, Avocado, anderes Gemüse, Natilla… was das Herz begehrt).

Und da wären wir wieder beim Brot.
Wir essen das schließlich auch Scheibe für Scheibe und nicht direkt einen ganzen Laib. Warum sollte man das mit Reis und Bohnen nicht auch so machen?